Sommerausstellung der Französischen Kirche
Immagina Riesi - Protestantisch auf Sizilien
Sommerausstellung in der Französischen Friedrichstadtkirche
Freitag, 19. Juli, 18.00 Uhr: AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG, Französischer Dom, Gendarmenmarkt 5, 10117 Berlin: Anmeldung über: buero@franzoesische-kirche.de
Samstag, 20. Juli, 18.00 Uhr: ASK THE ARTIST: „Zwei Perspektiven einer Geschichte“. Fotograf Gustavo Alàbiso (Karlsruhe) und Filmregisseur Salvo Cuccia (Palermo) diskutieren über das Projekt. Moderation: Ieva Lucia Husic. Französischer Dom, Gendarmenmarkt 5, 10117 Berlin
Sonntag, 21. Juli, 16:00 Uhr: VORSTELLUNG DES DOKUMENTARFILMS „Una storia valdese“, OmU, in Anwesenheit von Gustavo Alàbiso und Salvo Cuccia. Kino BABYLON, Rosa-Luxemburg-Str. 30, 10178 Berlin
Samstag, 24. August: „LANGE NACHT DER MUSEEN“ im Hugenottenmuseum und im Französischen Dom
23:00 Uhr: Die Waldenser-Connection – Minderheiten als „Salz der Erde“? Publizist Dr. Christian Walther im Gespräch mit Daniela Liebscher (Gemeindemitglied) und Gustavo Alàbiso (Fotograf)
00:00 Uhr: Ein gemeinsames Spaghetti-Essen - Spaghettata di mezanotte
ACHTUNG:
AM FREITAG, DEN 23.08.2024 IST DIE AUSSTELLUNG AUFGRUND EINES KONZERTS IM KIRCHSAAL GESCHLOSSEN.
AM SAMSTAG, DEN 24.08. KÖNNEN SIE DIE AUSSTELLUNG AB 18.00 UHR IM RAHMEN DER LANGEN NACHT DER MUSEEN BESUCHEN.
DIE AUSSTELLUNG
Mit der Ausstellung „Immagina Riesi - Protestantisch auf Sizilien“ gratulieren wir der Waldenserbewegung zu deren 850-Jahrfeier. Waldenser und Hugenotten sind reformierte Schwesterkirchen. Sie wurden beide lange verfolgt, kämpften als protestantische Minderheiten im Untergrund ums Überleben oder wurden ins Exil vertrieben. Angehörige beider Gruppen fanden im 17./18. Jahrhundert auch in deutschen Regionen Zuflucht, so in Berlin-Brandenburg, Hessen und Baden-Württemberg.
Die Waldenser, die in abgelegenen Alpentälern im Piemont blieben, erlangten erst 1848 die bürgerliche Gleichstellung mit der katholischen Bevölkerung. Danach gründeten sie in ganz Italien neue Gemeinden, so 1871 auch in Riesi, im tiefkatholischen Sizilien.
Die Fotos zeigen ein Diakonieprojekt der Waldenserkirche der 1960er Jahre. Mit dem „Servizio Cristiano“ in Riesi wollte sie praktische Nächstenliebe – Agape – ins verarmte sizilianische Hinterland tragen: Bildung und Partizipation sollten zur „sozialen Erlösung“ der Menschen beitragen.
Gustavo Alàbiso wuchs dort auf. Er gehörte zu den ersten Kindern, die die Grundschule des Projekts besuchten. 45 Jahre später ging der Fotograf auf die Suche nach seinen ehemaligen Schulfreundinnen und Schulfreunden. Seine Recherche macht die Aufbruchstimmung jener Jahre wieder lebendig. Seine Porträts und Aufzeichnungen dokumentieren auch die sozialen und politischen Spannungen, die damals das Bergarbeiterstädtchen Riesi prägten, aus dem übrigens der Großvater des deutschen Schriftstellers Ralph Giordano stammt.
Der „Servizio Cristiano“ besteht immer noch. Und die Diakonie der Waldenserkirche wird aktuell von weit mehr Italienern finanziell unterstützt, als die Kirche Mitglieder hat.
DIE GESCHICHTE DER WALDENSER
1174 gab Waldes von Lyon seinen Besitz den Armen, zog als Wanderprediger umher und lebte fortan von Almosen. So entstand vor 850 Jahren die Bewegung der “Armen Christi”, wie die Gefolgsleute von Waldes sich selbst nannten. Bereits 1184 wurden sie vom Papst als Ketzer verurteilt, weil sie ohne seine Erlaubnis als Laien predigten. Dadurch waren die Waldenser gezwungen, sich in den Untergrund zurückzuziehen.
Trotzdem breitete sich ihr Anhang im 13. Jahrhundert über große Teile Europas aus. Das Rückgrat der Bewegung bildeten die Wanderprediger, die in Armut lebten und unverheiratet waren. Die Bibel war für die Waldenser die einzige Autorität. Die Bergpredigt Jesu sollte wörtlich befolgt werden.
Die Verfolgungen des 14. und 15. Jahrhunderts trafen die Waldenser hart. Sie überlebten schließlich nur in den Cottischen Alpen, teilweise auf französischem, teilweise auf piemontesischem Boden. 1532 schlossen sie sich der Reformation an. 1561 gründeten sie eine kleine Kirche, die sie “Waldenserkirche” nannten. Sie war von Johannes Calvin geprägt, wie die reformierte Kirche in Genf und Frankreich.
Im 17. Jahrhundert wurden die Waldenser immer mehr in die Enge getrieben. Die französischen Waldenser mussten wie die Hugenotten fliehen, als König Ludwig der XIV. 1685 die reformierte Kirche in Frankreich verbot, und fanden einen neuen Heimat in Deutschland.
Auch die piemontesischen Waldenser erlitten schwere Verfolgungen, konnten sich aber behaupten. Als sie 1848 endlich ihre bürgerlichen Freiheiten erlangten, breitete sich die Waldenserkirche über ganz Italien aus und gestaltete sich zu einer italienischsprachigen evangelischen Kirche für alle Protestanten Italiens um.
Heute zählt die Waldenserkirche in Italien rund 16.000 erwachsene Mitglieder. Sie bewahrt die Erinnerung an Waldes. Sie betrachtet es als ihre Aufgabe, die Welt zur Treue zur Bibel aufzurufen und zeichnet sich durch ihr soziales und gesellschaftspolitisches Engagement in Italien aus.
Dr. Albert de Lange, Karlsruhe (Wiss. Vorstand der Deutschen Waldenservereinigung e.V.)
RIESI
„Riesi hatte den Ruf einer verbrannten, ausgestoßenen Gegend; der ‚Riesino‘ war gefürchtet; ein 'Rijsanu' war gleichbedeutend mit einem intelligenten, gewalttätigen Angeber, der sich wenig um die Religion scherte und sein eigenes Leben und das der anderen verachtete".
Gaetano Baglìo, "Il Solfaraio" 1905 („solfarai“, dt.: Bergleute der Schwefelminen)
Riesi ist ein sizilianischer Ort in der Provinz Caltanissetta, gegründet um 1600. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man mit dem Abbau der Schwefelvorkommen dies- und jenseits des Flusses Salso. Das Bergwerk Trabia-Tallarita erstreckte sich über die Gemeinden Sommatino und Riesi und wurde 1975 geschlossen. Neben der kargen Landwirtschaft stellte der Bergbau eine wichtige Einkommensquelle dar. Doch er verschärfte die prekäre soziale Lage durch niedrige Löhne, harte Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung von Minderjährigen - „Carusi“ genannt. Wer im Bergwerk tödlich verunglückte, dem wurde der letzte Segen in einer katholischen Kirche verweigert.
Kein Wunder, dass die Kommunisten hier schon früh vertreten waren. Aufständische riefen 1914 mitten in der italienischen Monarchie die „Republik Riesi“ aus. Sie dauerte nur einen Tag, wurde aber landesweit berühmt. Eine Landbesetzung 1919 durch Landarbeiter mündete im „Maschinengewehrfeuer“ mit etlichen Todesopfern auf beiden Seiten. Da ist es fast schon eine Ironie der Geschichte, dass der erste kommunistische Bürgermeister des Ortes von den amerikanischen Alliierten nach ihrer Landung auf Sizilien eingesetzt wurde. Der glühende Antifaschist gehörte 1943 zu den wenigen linken Politikern, denen damals eine Gemeindeleitung anvertraut wurde.
Dieses lebendige soziale und religiöse Umfeld kann nicht über den großen Einfluss der Mafia hinwegtäuschen. Die organisierte Kriminalität bildete einen Staat im Staate. Dabei verbündete sich die christdemokratische Partei in ihrem jahrzehntelangen Machtkampf gegen die Kommunistische Partei mit der organisierten Kriminalität. 1975 wurde der Mafia-Boss von Riesi Mitglied der Regionalkommission der Cosa Nostra. Das galt als besondere Ehre für seine lokale Einheit („Cosca“), die vom eigentlichen Machtzentrum der Mafia, Palermo, weit entfernt war. Der Bruder des Mafia-Bosses war Bürgermeister von Riesi und ein führender Vertreter der regionalen Democrazia Cristiana.
In Riesi lebten 1951 etwa 20.000 Einwohner, heute sind es noch 10.000. Die meisten wanderten nach Norditalien, Deutschland, Belgien und Frankreich aus. Heute ist nur noch der Anbau von Weintrauben, Tafeltrauben, Obst, Gemüse und Oliven rentabel. Anders als noch in den 1960er Jahren erfolgt die landwirtschaftliche Produktion inzwischen maschinell und über Bewässerungsanlagen. Die prestigeträchtigste Errungenschaft ist die Winzergenossenschaft. Sie wurde 1972 auf Anregung des Waldenserpfarrers Tullio Vinay gegründet. An diesem zivilgesellschaftlichen Kraftakt beteiligten sich damals Vertreter aller sozialen, politischen und religiösen Gruppen. Die Genossenschaft ist heute der weltweit führende Hersteller des Nero d’Avola.
DIE WALDENSERGEMEINDE IN RIESI
Ende des 19. Jahrhunderts unterzeichneten 120 Einwohner eine Eingabe, darunter Adlige, Bauern und Schwefelarbeiter, und baten um die Versetzung des Waldenserpastor Malan aus Messina nach Riesi. Die Initiative war Teil der politischen und sozialen Auseinandersetzungen nach der Einigung Italiens, die weit über den Ort hinaus strahlten.
Malan erreichte durch seine Predigten seit Anfang 1871 so viele Anhänger, dass sie die örtliche katholische Kirche besetzten, die nicht mehr benutzt wurde. Der Bürgermeister selbst läutete die Glocken. Am ersten evangelischen Gottesdienst in Riesi nahmen etwa 2.000 Einwohner teil.
Seitdem engagierte sich die Waldensergemeinde auch sozial. Als Waldensergemeinde war sie ungewöhnlich groß. Zeitgenössische Umfragen und Statistiken belegen, dass sich viele Einwohner offen als Waldenser bekannten. 1889 wurde die Waldenserkirche eingeweiht. Für den einschiffigen, außen mit Stuck verzierten Bau wurde der Seitenflügel eines historischen Adelspalastes entkernt. Der Hof diente bis in die 1960er Jahre den Kindern der Waldenser- und Sonntagsschulen als Schulhof.
1961 entsandte die Waldenserkirche Tullio Vinay als Pastor mit seiner Familie und einer Gruppe von Freiwilligen nach Riesi. Vinay war bereits seit Ende der 1950er Jahre überzeugt von der Möglichkeit, an diesem Ort seine Vision verwirklichen zu können: einen Begegnungsort vor allem für die Kinder des desolaten sizilianischen Hinterlands zu errichten. Sie sollten sich persönlich entwickeln können und so eine Zukunft erhalten.
Die Anlage “Monte degli Ulivi” entstand zwischen 1961 und 1964 auf einem Hügel nahe dem Ortseingang. Ihre futuristische Architektur strahlt Hoffnung aus. Das Gebäude des Kindergartens erinnert an ein Raumschiff, die Grundschule scheint zwischen den Ästen der Olivenbäume zu fliegen, auch die Unterkunft für das Personal. Eine Kirche auf der Hügelkuppe und weitere Gemeinschaftsunterkünfte waren geplant.
Der Architekt Leonardo Ricci setzte auch eine neue Bauweise ein, indem er Zement, lokales Material und den damals in Sizilien noch unbekannten Stahlbeton mit der Mörteltechnik der “dammusi” in der Altstadt zusammenbrachte. Die Bauarbeiten wurden von Riesinern ausgeführt. Vinay war es ein Anliegen, das Projekt als Gemeinschaftsprojekt erlebbar zu machen. Die Zukunft sollte buchstäblich gemeinsam angepackt werden.
Die Freiwilligen lebten auf dem Gelände des Servizio Cristiano, auf dem sie zunächst einen Kindergarten und eine Grundschule nach modernen pädagogischen Ansätzen eröffneten. Es folgten eine Berufsschule für Mechaniker und ein modernes Zentrum für Landwirtschaft und Viehzucht. Vinay richtete außerdem eine der ersten Familienberatungsstellen Italiens ein, initiierte ein Kulturzentrum und die Gründung einer Winzergenossenschaft. Diese ist heute der weltweit führende Hersteller des Nero d’Avola-Weins.
Heute betreut die Einrichtung 150 Kinder, und etwa 50 Personen stehen der Gemeinschaft nahe. Vielleicht ist auch nach über 60 Jahren der Servizio Cristiano in Riesi unverstanden geblieben. Er bleibt dennoch seinem Grundanliegen treu: dass sich Visionen für eine bessere Zukunft gemeinsam mit anderen verwirklichen lassen.
GUSTAVO ALÀBISO
Gustavo Andrea Alàbiso (*1962) verbrachte seine ersten vier Jahre im Ökumenischen Zentrum "Agape" in den piemontesischen Waldensertälern. Er lebte anschließend bis 1985 in Riesi auf Sizilien. Seine Eltern waren Pastor Tullio Vinay nachgefolgt, um den "Servizio Cristiano" mit aufzubauen. Alàbiso absolvierte von 1987 bis 1990 die Fotografie-Ausbildung am „Istituto Europeo di Design“ in Rom. Seit 1991 lebt und arbeitet er in Karlsruhe.
Er war 20 Jahre als Bildjournalist für die „Badischen Neusten Nachrichten“ sowie bundesweite Bildagenturen wie Imago und epd-bild tätig. Obwohl er weiterhin für private Kunden arbeitet, widmet er sich auch Einzelausstellungen und Buchprojekten.
Alàbiso zeigt die Vielfalt menschlichen Lebens. Er transportiert Besucherinnen und Besucher oder Lesende gerne in Welten, in denen ungewöhnliche Perspektiven gezeigt werden, und präsentiert seine Fotografien in abgeschlossenen Formaten wie Büchern, Broschüren, Ausstellungen oder Homepages.
Für seine Buchprojekte arbeitet er auch mit Autorinnen und Autoren zusammen, um aus Fotografie, Text und Information eine Erzählung zu weben. Die fotografische Technik passt er dabei dem jeweiligen Projekt an. So hat er sich auf die Spurensuche nach den ehemaligen Schulfreunden von Riesi begeben und diese mit einer Hasselblad von 1970 auf Rollfilm belichtet. Im Fotobuch „Immagina Riesi“ erschafft Alàbiso mit seinen Bildern und den Familienfotos seiner Schulfreunde die Illusion einer Zeitkapsel, die sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart umfasst.
Weitere Projekte: „Der Landkreis Karlsruhe“ 2013; "300 x Karlsruhe" über das Stadtjubiläum 2015; „Ihr fehlt mir!!!“ über die Lockdowns 2020/2021; Mitherausgeber von „Call it Corona“ 2023 zur Pandemie sowie die Wanderausstellung „Du bist der Gott, der mich sieht“ 2023 mit Porträts von Gästen und Ehrenamtlichen der Vesperkirche Karlsruhe.